Leid und Tod

Die Herberge für den Abschied

Einen schärferen Einschnitt in ihr Leben können Eltern sich nicht vorstellen: das eigene Kind sterben zu sehen. Als Seelsorgerin im Kinderhospiz versucht Elfriede Notz ihnen zu helfen, daran nicht zu verzweifeln.

Diese schreckliche Diagnose: unheilbar krank. Diese Formeln, die jede Hoffnung erschlagen: Die Lebenserwartung Ihrer Tochter, Ihres Sohns ist sehr limitiert. Oder: Es gibt keine Medikamente, mit denen wir es noch versuchen könnten.

Ich arbeite als Seelsorgerin in einem Kinderhospiz. Das Entsetzen, das Leid und die damit verbundene Trauer von Eltern, Großeltern, Geschwistern und Freunden kann ich nicht verhindern, nicht in den Lauf des Lebens eingreifen. Aber ich versuche, diesen Kindern und ihren Familien menschlich nahe zu sein und sie seelsorglich so professionell wie möglich zu begleiten.

Hospiz bedeutet Herberge

„Hospiz“ – schon das Wort weckt bei vielen schlimme Assoziationen; dabei bedeutet es einfach „Herberge“. In unserem Haus St. Nikolaus in Bad Grönenbach (im Unterallgäu) finden acht Familien unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit eine Herberge auf Zeit, wenn ihr Kind unheilbar erkrankt ist und nur noch eine geringe Lebenserwartung hat.

„Ein Haus voller Leben“

Das Haus In unserem Hospiz bin ich Teil eines multiprofessionellen Teams. Wir sehen unsere gemeinsame Aufgabe darin, die verbleibende Lebenszeit der Kinder möglichst erfüllt zu gestalten. Dazu setzen wir das Motto „Ein Haus voller Leben“ ganz praktisch um; während des Aufenthaltes einer Familie bei uns (bis zu 28 Tage im Jahr) bilden wir mit unseren Gästen eine Gemeinschaft auf Zeit, schenken den Familien ein zweites Zuhause und die Möglichkeit, Kraft zu tanken für den Weg vor ihnen.

Der Alltag im Kinderhospiz orientiert sich ausschließlich an den Bedürfnissen der Kinder. Alle therapeutischen Angebote – Wasser-, Ergo-, Musik-, Mal-, Hundetherapie und viele mehr – zielen darauf ab, ihnen Lebensfreude zu schenken und ihre eigenen Ressourcen (neu) zu entdecken, zu fördern und zu festigen. Den Familienangehörigen bieten wir neben Gesprächen mit der Sozialpädagogin oder mit mir als Seelsorgerin Kreativ- und Freizeitbeschäftigungen, Ausflüge, Meditationen, gottesdienstliche Feiern und anderes mehr. Zum Programm gehört auch das Feiern von Festen, wie Fasching, Ostern, St. Martin oder Silvester; zuhause können die Familien an solchen Feiern oft nicht teilnehmen.

Alles steht Kopf

Die schwere Erkrankung der Kinder bringt fast immer das gesamte Familienleben und -system aus dem Gleichgewicht. Alles, was vorher wichtig war, ist – oft von einem Tag auf den anderen – auf den Kopf gestellt: Private und berufliche Ziele müssen umgeworfen werden, das Leben und das Lebensgefühl aller Beteiligten verändern sich radikal. Alle sind plötzlich enormen, intensiv erlebten Belastungen ausgesetzt; der Alltag der Eltern ist geprägt von vielen offenen Fragen, schweren Entscheidungen und organisatorischen Problemen, großer Anspannung, Ängsten bis hin zur Panik und plötzlich aufbrechenden Konflikten. Die Betreuung ihrer erkrankten Kinder bringt die Eltern oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, denn sie sind Tag und Nacht im Einsatz. Auch bei chronisch verlaufenden Krankheiten, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, gibt es kein Sich-einrichten. Es ist ein stetiges „Leben im Plötzlich“: plötzlich dieser Anfall, eine dramatische Verschlechterung … Zudem verlieren viele erkrankte Kinder nach und nach ihre bislang erlernten Fähigkeiten. Das bedeutet immer wieder „kleine Abschiede“, die erlebt und erlitten werden – für die Kinder selbst, aber auch für die sorgenden Eltern und für das ganze familiäre und soziale Umfeld.

Eine Zeit der Daueranspannung

Oft erlebe ich Eltern gleich dreifach in höchster Daueranspannung: in der Krise als Individuum, als Ehepartner und als Elternteil – eine kaum auszuhaltende Situation, in der manche scheitern und Partnerschaften und Familien zerbrechen. Die Pflege und Betreuung ihres kranken Kindes in professionelle Hände abgeben zu können, ist für sie eine große Entlastung, manchmal vielleicht sogar Rettung. Endlich wieder einmal durchschlafen, ungestört miteinander reden, in Ruhe essen, Kaffee trinken oder einen Ausflug mit den gesunden Geschwisterkindern unternehmen …

Die Geschwister

Wenn der Alltag der ganzen Familie sich an der Erkrankung und den Bedürfnissen des betroffenen Kindes orientiert, erleben dessen Geschwister ihre Eltern häufig als „besetzt“. Sie erfahren weniger Aufmerksamkeit und Begleitung für ihre eigenen großen und kleinen Alltagsprobleme, die stets hinter den dringenderen Bedürfnissen des erkrankten Kindes zurücktreten müssen. So laufen manche Geschwisterkinder Gefahr, selbst krank zu werden, und entwickeln psychosomatische Symptome. Unser Team im Hospiz betreut deshalb drei ambulante Gruppen für diese Mädchen und Jungen, die sich regelmäßig treffen, und versucht darüber hinaus auch im Alltag, gezielt auch für die Geschwister der erkrankten Kinder ein Gefühl von Geborgenheit, Verstandensein und Gemeinschaft mit anderen betroffenen Kindern und Jugendlichen zu schaffen.

Die Sinnfrage

Wo, wenn nicht hier im Kinderhospiz, drängen sich die „großen“ Fragen unerbittlich auf? Die Fragen nach und an Gott, an das Leben nach dem Tod und nach dem Sinn „des Ganzen“ … Die Zweifel und die Verzweiflung der Eltern und anderer mitleidender Menschen, ihr Ringen um Schuld, Vergebung und Annehmenkönnen dulden keine vorgefertigten Antworten. Für mich als Seelsorgerin kommt es darauf an, diese Menschen in ihrer Würde und Einzigartigkeit wahr- und anzunehmen; ich kann ihnen nichts überstülpen, aber ich kann als Wegbegleiterin ihre Suche nach tragfähigen eigenen Antworten fördern. Die allermeisten nehmen dieses Angebot gerne und dankbar an.

Die Begleitung eines sterbenden Kindes

Wie die Geburt eines Menschen ist auch sein Sterben ein sehr intimer, ja „heiliger“ Moment. Die Begleitung eines sterbenden Kindes und seiner Angehörigen gehört deshalb zu meinen tiefsten Eindrücken im Kinderhospiz. Wie bei B., einem neunjährigen muslimischen Mädchen, das mich bei unserem ersten Treffen skeptisch mustert: „Eine Seelsorgerin – was ist das denn?“ Ich erkläre es ihr mit einfachen Worten. Während der weiteren Begegnungen spüre ich, wie B. nach und nach Vertrauen zu mir fasst. Mal singen wir gemeinsam, mal lese ich etwas vor, mal sitzen wir schweigend zusammen, mal erzählt sie aus besseren Tagen. B. ist auf eigenen Wunsch hier, hat sich gegen eine weitere Chemotherapie entschieden. Es folgen emotional dichte Tage im Dasein und im Aushalten mit B. und ihren Eltern und in der gemeinsamen Suche nach einem Sinn. B.s Vater hält die Anspannung, das langsame Sterben seiner Tochter mitzuerleben, kaum aus. Er hadert mit den Ärzten und mit einem Gott, der es zulässt, dass seine einzige Tochter stirbt. Immer wieder schreit er seine Ohnmacht und Verzweiflung heraus. Es fällt ihm schwer, mich als Gegenüber zu akzeptieren; ich bin eine Frau und katholisch. Trotzdem sucht er immer wieder den Austausch im Gespräch. Die Mutter leidet schweigend. B., das kleine Mädchen, spürt die Verzweiflung ihrer Eltern und braucht sie gleichzeitig als Halt. Manchmal vertraut sie ihre Ängste lieber Menschen aus unserem Team an, um die Eltern zu schonen.

Die Tage sind eine Gratwanderung zwischen Hoffen und Verzweifeln, zwischen Licht und Dunkelheit. Zwei Wochen später stirbt B. in den Armen ihrer Mutter.

Der Abschied

Die Eltern nehmen drei Tage lang Abschied von ihrer Tochter, bemalen den Sarg. Besonders der Vater widmet sich stundenlang dieser Aufgabe, obwohl er vorher einen Sarg vehement abgelehnt hatte. Die Eltern schmücken den Abschiedsraum mit persönlichen Bildern und Gegenständen von B. Wir feiern eine bewegende Gedenkfeier. Viele Hausgäste und Teammitglieder nehmen teil, fühlen sich tief mit der Familie verbunden.

Kinder wie B. auf ihrem letzten Lebensweg begleiten zu dürfen, sie in ihrer Begrenztheit zu erleben, in ihre leuchtenden Augen zu blicken und das „Dennoch“ zu spüren, überwältigt mich – und beschenkt mich doch immer wieder neu. Diese Aufgabe als Seelsorgerin leben kann ich nur, weil ich selbst hoffe und vertraue auf einen mitgehenden, menschenfreundlichen Gott, der um uns Menschen weiß und uns bedingungslos annimmt.